BGH, Beschluss vom 26.01.2021 – 1 StR 463/20
§ 228 StGB bestimmt: „Wer eine Körperverletzung mit Einwilligung der verletzten Person vornimmt, handelt nur dann rechtswidrig, wenn die Tat trotz der Einwilligung gegen die guten Sitten verstößt.“
Zwar ist der § 228 StGB kein eigenständiger Rechtfertigungsgrund, allerdings konturiert diese Vorschrift die Grenzen des ungeschriebenen Rechtfertigungsgrundes der „rechtfertigenden Einwilligung“. Der § 228 StGB ist also ein zentraler Anknüpfungspunkt bei der Frage, ob ein Handeln des Täters gerechtfertigt war und er sich in der Folge nicht strafbar gemacht hat.
In seinem Beschluss vom 26.01.2021 beschäftigt sich der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofes (BGH) ausführlich mit der Einwilligung und der Sittenwidrigkeit. Der BGH greift dabei die Grundsätze auf, anhand derer die Einwilligung und die Sittenwidrigkeit zu beurteilen sind und thematisiert die Handhabung des § 228 StGB im Falle einer Schlägerei in der Justizvollzugsanstalt (JVA).
Es ereignete sich folgender Sachverhalt:
Der Angeklagte und das spätere Opfer verbüßten ihre Haftstrafen in der gleichen Justizvollzugsanstalt, wohnten jedoch in 2 verschiedenen Häusern. Sie lagen schon länger im Streit miteinander und die übrigen Strafgefangenen wussten, dass es bald eine körperliche Auseinandersetzung zwischen den beiden geben würde. Am 15.08.2019 fand ein Volleyballspiel zwischen den Strafgefangenen der beiden Häuser des Angeklagten und des Geschädigten statt. Hierbei wurde der Angeklagte durch einen Strafgefangenen darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich der Geschädigte hier mit ihm schlagen wolle. Infolgedessen schlugen sich der Angeklagte und der Geschädigte mit ihren Fausten. Es ist jedoch unklar, wer die Schlägerei begann. Kurz nach Beginn der Schlägerei schlug der Angeklagte dem Geschädigten derartig heftig gegen den Kopf, dass durch die dadurch bedingte starke Beschleunigung des Kopfes ein Gefäßabriss im Bereich der Hirnbasis mit ausgeprägten Blutungen bei dem Geschädigten bewirkt wurde. Dieser verursachte den Tod des
Geschädigten, wobei jedoch nicht ausgeschlossen werden kann, dass auch der anschließende Sturz zu Boden durch den Geschädigten und das Aufschlagen seines Hinterkopfes hierzu beitrug. Überdies ist nicht auszuschließen, dass der Geschädigte hiernach noch eingeschränkt handlungsfähig war, indem er versuchte, zurückzuschlagen und möglicherweise dem Angeklagten in das Gesicht schlug. Hiernach trat der Angeklagte dem Geschädigten mit dem Fuß auf die Stirn, wodurch eine streifenförmige Zeichnung seines Turnschuhs auf der Stirn des Geschädigten verblieb.
Das Landgericht verurteilte den Angeklagten wegen (vorsätzlicher) Körperverletzung mit Todesfolge. Nunmehr hatte der BGH über die Revision des Angeklagten zu entscheiden.
Die Entscheidung des Landgerichts
Das Landgericht sah den Tatbestand des § 227 StGB (Körperverletzung mit Todesfolge) als verwirklicht an. Eine Einwilligung des Geschädigten liege – nach der Auffassung des Landgerichts – nicht vor. Es habe keine „einvernehmliche oder ausgemachte Prügelei“ vorgelegen, insbesondere hätten der Angeklagte und der Geschädigte keinen konkreten Zeitpunkt und Ort vereinbart. Schließlich seien an eine Auseinandersetzung in der Justizvollzugsanstalt besondere Maßstäbe anzulegen, das Landgericht entschied nämlich, dass eine Einwilligung in eine körperliche Auseinandersetzung in einer Justizvollzugsanstalt sittenwidrig sei. Dies folge daraus, dass derartige Auseinandersetzungen in der Justizvollzugsanstalt verboten seien, disziplinarisch geahndet würden und das Potential dazu hätten, auch andere Strafgefangene zum Mitmachen zu mobilisieren.
Die Entscheidung des BGH
Der BGH kam zu einem eindeutigen Ergebnis:
„Der Angeklagte hat sich, anknüpfend an die Erfüllung des Grundtatbestands der vorsätzlichen Körperverletzung zu Beginn der Auseinandersetzung,
nicht der Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) schuldig gemacht, weil
das Grunddelikt gerechtfertigt war und die Todesfolge – jedenfalls nicht aus-
schließbar – bereits zu diesem Zeitpunkt verursacht worden ist.“
(Hervorhebungen durch die Verfasserin)
Der BGH entschied sich für die Annahme einer konkludenten Vereinbarung der Schlägerei durch den Angeklagten und den Geschädigten bei ihrem nächsten Treffen, wobei die konkrete Benennung von Ort und Zeit nicht nötig sei.
Der erste wuchtige Faustschlag des Angeklagten gegen den Kopf des Geschädigten sei gerechtfertigt gewesen, da sowohl der Angeklagte, als auch der Geschädigte stillschweigend davon ausgegangen seien, dass es im Rahmen ihrer Schlägerei zu Verletzungen am Kopf und am Körper sowie zu Faustschlägen ins Gesicht kommen würde. Es habe also eine stillschweigende und wirksame Einwilligung des Geschädigten in derartige Körperverletzungshandlungen zu diesem Zeitpunkt vorgelegen.
JurCase informiert:
Die Voraussetzungen für die Annahme des Rechtfertigungsgrundes der „rechtfertigenden Einwilligung“ sind:
I. Objektive Voraussetzungen:
- Wirksame Erklärung der Einwilligung
- Disponibilität des Rechtsguts und Dispositionsbefugnis des Einwilligenden
- Einwilligungsfähigkeit
- Wahrung der Grenzen des § 228 StGB (keine Sittenwidrigkeit)
II. Subjektive Voraussetzung: Subjektives Rechtfertigungselement
(Beispielhaft an einem Fall dargestellt in: BGH, Urt. v. 12.5.2020 − 1 StR 368/19)
Die Tatsache, dass die Schlägerei in einer Justizvollzugsanstalt stattgefunden habe, ändere an dieser Beurteilung nichts. Vielmehr könne auch ein Strafgefangener einer Justizvollzugsanstalt eine solche „rechtfertigende Einwilligung“ erteilen.
Auch sei bezüglich des ersten wuchtigen Faustschlages gegen den Kopf des Geschädigten die Grenze der Einwilligung gemäß § 228 StGB nicht erreicht gewesen. Es habe diesbezüglich kein Verstoß gegen die guten Sitten vorgelegen.
JurCase informiert:
In diesem Zusammenhang greift der 1. Strafsenat des BGH die Grundsätze auf, nach denen eine Körperverletzung trotz der Einwilligung des Geschädigten als rechtswidrig gilt, also ein Verstoß gegen die guten Sitten vorliegt:
„Die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den ‚guten Sitten’ im Sinne von § 228 StGB trotz der Einwilligung des betroffenen Rechtsgutsinhabers hängt von der ex-ante zu bestimmenden Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des eingetretenen Körperverletzungserfolgs sowie des damit einhergehenden Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers ab […]. Nach diesem Maßstab ist die Körperverletzung jedenfalls dann als sittenwidrig zu bewerten, wenn bei objektiver Betrachtung unter Einbeziehung aller
maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird […].“
(Hervorhebungen durch die Verfasserin)
Das maßgebliche Kriterium für die Beurteilung der Sittenwidrigkeit einer Körperverletzung ist danach also die Frage, ob eine konkrete Todesgefahr für das Opfer in der jeweiligen Situation bestanden hat. Hierfür sind alle Umstände des Einzelfalles zu würdigen.
Im vorliegenden Fall entschied sich der BGH – unter Würdigung der Umstände dieses Einzelfalles – gegen das Bestehen einer konkreten Todesgefahr für das Opfer. Es sei hier auf das Vereinbarte zwischen dem Angeklagten und dem Geschädigten abzustellen und zu prüfen, „ob das Vereinbarte in ausreichend sicherer Weise für die Verhütung gravierender, sogar mit der Gefahr des Todes einhergehender Körperverletzungen Sorge tragen kann; insoweit ist auch die Eskalationsgefahr zu berücksichtigen, die sich aus der Unkontrollierbarkeit gruppendynamischer Prozesse ergibt […].“
Maßgeblich für die Ablehnung der Sittenwidrigkeit sei hier, dass es sich um eine Schlägerei zwischen zwei unbewaffneten, erwachsenen Strafgefangenen gehandelt habe, die beide sowohl abwehrfähig als auch abwehrbereit waren. Weder schwere Gesundheitsschäden noch eine konkrete Todesgefahr sei zu erwarten gewesen. Auch der Umstand, dass andere Strafgefangene der beiden Häuser anwesend waren, ändere nichts an dieser Beurteilung. Ein Eingreifen durch andere Strafgefangene sei nicht vereinbart gewesen, so dass hier keine Eskalationsgefahr gedroht habe. Zwar liege die Eskalation eines solchen Kampfes in einer Justizvollzugsanstalt nahe, jedoch könne die Anwesenheit von vielen anderen Personen und des Wachpersonals neben den Beteiligten an der Schlägerei auch eine Deeskalation bewirken. Es seien überdies Ersthelfer vorhanden gewesen, so dass eine erste Hilfe gesichert gewesen sei.
Schließlich erteilte der BGH der Auffassung des Landgerichts, wonach die Körperverletzung schon deshalb gegen die guten Sitten verstoßen habe, da sie in der Justizvollzugsanstalt stattfand, eine Absage: „Das eine körperliche Auseinandersetzung in einer Justizvollzugsanstalt unerwünscht ist und disziplinarisch geahndet wird, ist lediglich eine Folge des Kampfes und macht die Tat als solche nicht sittenwidrig. Dieses ordnungsrechtliche Verbot berührt nämlich allein den äußeren Rahmen der einverständlichen Körperverletzungshandlungen; es genügt für sich genommen nicht, dass die wechselseitigen Einwilligungen hierdurch sittenwidrig werden.“
Bezüglich des weiteren Geschehens stellte der BGH fest, dass der Sturz des Geschädigten auf den Boden eine zeitliche Zäsur bewirkt habe. Die Handlungen des Angeklagten nach dieser zeitlichen Zäsur seien folglich nicht mehr von der Einwilligung gedeckt gewesen, da die stillschweigende Einwilligung eine solche Situation nicht erfasst habe. Überdies sei der Tritt auf ein am Boden liegendes Opfer jedoch ohnehin sittenwidrig, so dass die Grenze der Einwilligung gemäß § 228 StGB diesbezüglich erreicht wäre.
Zu Guter Letzt gab der BGH noch einen prozessualen Hinweis, der besonders im Zweiten Staatsexamen eine größere Rolle spielen dürfte:
„Der Senat verweist die Sache entsprechend § 354 Abs. 3 StPO an eine allgemeine Strafkammer des Landgerichts zurück, da eine Zuständigkeit des Schwurgerichts nicht mehr besteht.“
(Hervorhebung durch die Verfasserin)
JurCase informiert:
§ 354 StPO lässt eine solche Zurückweisung zu und bestimmt in seinem Absatz 3: „Die Zurückverweisung kann an ein Gericht niederer Ordnung erfolgen, wenn die noch in Frage kommende strafbare Handlung zu dessen Zuständigkeit gehört.“
Fazit
Dieser Beschluss des BGH greift die Grundsätze der „rechtfertigenden Einwilligung“ und der Sittenwidrigkeit der Körperverletzung i.S.d. § 228 StGB auf und verdeutlicht, dass mit der präzisen Anwendung dieser Grundsätze jede Fallkonstellationen gelöst werden kann. Auf die Besonderheit, dass der Fall in der JVA spielte, kam es mit der genauen Subsumtion unter die Voraussetzungen der „rechtfertigenden Einwilligung“ und der Sittenwidrigkeit i.S.d. § 228 StGB somit gar nicht entscheidend an. Vielmehr ist der Fokus auf den jeweiligen Einzelfall zu legen und es sind alle Umstände der vorliegenden Situation zu würdigen, um zu einem sachgerechten Ergebnis zu gelangen. Der Beschluss verdeutlicht also: Das Beherrschen und die präzise Anwendung von juristischen Grundsätzen ermöglichen das Lösen von Fällen in jeglichem situativen Kontext.