Problem: Schmähkritik und Formalbeleidigung
EINORDNUNG: Grundrechte
BVerfG, Beschluss vom 19.05.2020 1 BvR 2397/19
EINLEITUNG
Ein Klausurklassiker: Strafbarkeit von Meinungsäußerungen. Das BVerfG nutzt den Fall, um Begrifflichkeiten zu klären und zentrale Abwägungskriterien aufzuzeigen.
LEITSÄTZE DER REDAKTION
- Bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, tritt die Meinungsfreiheit ausnahmsweise hinter den Ehrschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf. Es handelt sich dabei um eng begrenzte Ausnahmekonstellationen.
- Die Menschenwürde ist verletzt, wenn sich eine Äußerung gegen den Kern der Persönlichkeit richtet, d.h. der Betroffene wird nicht als gleichwertige Persönlichkeit, sondern als unterwertiges Wesen behandelt.
- Schmähkritik zeichnet sich dadurch aus, dass ihr jeglicher Sachbezug fehlt und es allein um die grundlose Verächtlichmachung einer Person geht, wie dies bei einer Privatfehde der Fall ist.
- Eine Formalbeleidigung verlangt die Verwendung gesellschaftlich absolut missbilligter und tabuisierter Begrifflichkeiten, etwa aus der Fäkalsprache.
- Liegt keine dieser eng begrenzten Ausnahmekonstellationen vor, überwiegt nicht automatisch die Meinungsfreiheit, auch nicht aufgrund der Vermutung zugunsten der freien Rede. Es bedarf dann aber einer Abwägung der Meinungsfreiheit mit dem Ehrschutz, die eine umfassende Auseinandersetzung mit den konkreten Umständen des Falles und der Situation, in der die Äußerung erfolgte, verlangt.
- Zu den Abwägungskriterien zählen insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten.
SACHVERHALT
B trennte sich im Jahre 2002 von seiner damaligen Partnerin und führte anschließend vor verschiedenen bayerischen Gerichten zahlreiche rechtliche Auseinandersetzungen um das Umgangsrecht mit der gemeinsamen Tochter, das ihm ab 2012 ganz verwehrt wurde. 2016 verfasste er in seinem Internetblog aus Anlass einer für ihn nachteiligen Berufungsentscheidung drei weitere Einträge. Darin nannte er unter anderem die an der Entscheidung beteiligten Richter sowie diverse andere Personen namentlich, stellte Fotos von ihnen ins Netz und bezeichnete sie mehrfach als „asoziale Justizverbrecher“, „Provinzverbrecher“ und „Kindesentfremder“, die Drahtzieher einer Vertuschung von Verbrechen im Amt seien. Sie hätten auf Geheiß des namentlich genannten „rechtsradikalen“ Präsidenten des Oberlandesgerichts offenkundig massiv rechtsbeugend agiert.
B wurde deshalb von den Strafgerichten wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe verurteilt. Zwar handele es sich wegen des sachlichen Bezugs und der verständlichen schweren emotionalen Situation des B nicht um Schmähkritik. Bei einer Abwägung der widerstreitenden grundrechtlichen Interessen überwiege jedoch der Ehrschutz. Den drei unter Namensnennung und Bebilderung im Internet veröffentlichten Beiträgen sei der Vorwurf zu entnehmen, dass die Mitglieder des entscheidenden Senats des Oberlandesgerichts und ihr Dienstvorgesetzter allgemein dazu neigten, Bürger in kollusivem Zusammenwirken gleich einer organisierten Bande ohne Ansehen des Rechts um ihre gesetzlichen Rechte zu bringen. Dabei handele es sich um einen erheblichen Angriff auf die Ehre und Integrität der Betroffenen, bei dem die Diffamierung im Vordergrund gestanden habe. Zwar spreche für einen Vorrang der Meinungsfreiheit, dass es sich für den Beschwerdeführer bei dem anlassgebenden Beschluss des Oberlandesgerichts um eine massiv einschneidende Maßnahme gehandelt habe, sodass auch Verständnis für scharfe Kritik bestehe. Auf der anderen Seite stehe jedoch der erhebliche, über das Internet gegenüber einer Vielzahl von Personen geäußerte Vorwurf, Verbrecher und Rechtsbeuger zu sein, der die Integrität der Betroffenen schwer erschüttere.Insbesondere die über einen längeren Zeitraum wiederkehrende, mit Abbildungen untermalte, aufreißerische und anprangernde Darstellung lasse die persönliche Kränkung in den Vordergrund und das sachliche Anliegen in den Hintergrund treten.
Ist B durch die strafgerichtliche Verurteilung in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG verletzt?
LÖSUNG
Die Verurteilung verletzt B in seiner Meinungsfreiheit, wenn ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 1. Hs. GG vorliegt, der nicht gerechtfertigt ist.
I. Eingriff in den Schutzbereich
Es muss ein Eingriff in den Schutzbereich des Art. 5 I 1 1. Hs. GG vorliegen. Art. 5 I 1 1. Hs. GG schützt für jedermann das Recht auf freie Meinungsäußerung. Unter Meinung sind alle Werturteile zu verstehen, also jede Äußerung, die durch die Elemente der Stellungnahme, des Dafürhaltens oder Meinens im Rahmen einer geistigen Auseinandersetzung geprägt ist.
[Persönlicher und sachlicher Schutzbereich]
[Definition „Meinung“ Schildheuer, JURA INTENSIV, Grund- rechte, Rn 315 f.]
„[12] […] Dies gilt ungeachtet des womöglich ehrschmälernden Gehalts einer Äußerung. Dass eine Aussage polemisch oder verletzend formuliert ist, entzieht sie nicht dem Schutzbereich des Grundrechts. Die strafrechtliche Sanktionierung knüpft an diese dementsprechend in den Schutzbereich fallenden und als Werturteil zu qualifizierenden Äußerungen an und greift damit in die Meinungsfreiheit des Beschwerdeführers ein.“
[Schutzbereich erfasst auch Beleidigungen, arg. e. Art. 5 II GG]
[Eingriff in Gestalt einer Sanktion]
[Knappe Prüfung, da unproblematisch]
Somit liegt ein Eingriff in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit vor.
II. Rechtfertigung des Eingriffs
Der Eingriff in den Schutzbereich des Grundrechts ist verfassungsrechtlich gerechtfertigt, wenn er durch die Schranken des Grundrechts gedeckt ist.
1. Festlegung der Schranke
Die Grundrechte aus Art. 5 I GG finden ihre Schranke in dem qualifizierten Gesetzesvorbehalt des Art. 5 II GG. Hier könnte die Schranke der allgemeinen Gesetze einschlägig sein. Allgemeine Gesetze sind solche Bestimmungen, die sich nicht gegen eine bestimmte Meinung als solche richten, sondern dem Schutz eines höherrangigen Rechtsguts dienen, also dem Schutz eines Gemeinschaftswerts, der gegenüber der Betätigung der Meinungsfreiheit den Vorrang hat. Dabei hat das einschränkende Gesetz seinerseits die besondere Bedeutung des Grundrechts aus Art. 5 I 1 1. Hs. GG zu beachten, das für einen demokratischen Rechtsstaat geradezu konstituierend ist und somit eines der vornehmsten und wichtigsten Grundrechte darstellt. Das begrenzende Gesetz wird also wiederum begrenzt durch die hohe Wertigkeit der Meinungsfreiheit (sog. Wechselwirkungslehre).
Die strafgerichtliche Verurteilung stützt sich auf § 185 StGB. Diese Vorschrift ist meinungsneutral und schützt mit der persönlichen Ehre ein durch Art. 2 I i.V.m. Art. 1 I 1 GG verfassungsrechtlich geschütztes Rechts- gut, das sich gegen die Meinungsfreiheit durchsetzen kann, sodass § 185 StGB ein allgemeines Gesetz i.S.v. Art. 5 II GG ist.
[Definition „allgemeine Gesetze“ Schildheuer, JURA INTENSIV, Grund- rechte, Rn 366 ]
[Wechselwirkungslehre sollte hier schon erwähnt werden, hat eigentlichen Anwendungsbereich aber erst in der Angemessenheitsprüfung.]
[Allgemeines Gesetz: § 185 StGB]
[Das BVerfG begreift die Schranke „Recht der persönlichen Ehre“ nur als Unterfall der Schranke „allgemeine Gesetze“.]
2. Schranken-Schranken
a) Verfassungsmäßigkeit des § 185 StGB
§ 185 StGB ist formell und materiell verfassungsgemäß, insbesondere ist die Norm einer verfassungskonformen Auslegung und Anwendung im Einzelfall zugänglich.
[Unproblematisch, daher nur Ergebnissatz. Das BVerfG hat die Verfassungsmäßigkeit des § 185 StGB gar nicht erst geprüft.]
b) Verfassungsmäßigkeit des Einzelakts
Die Anwendung des § 185 StGB durch die Strafgerichte muss den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen, d.h. verhältnismäßig sein. Fraglich ist allein die Angemessenheit der Verurteilung im Lichte der oben erwähnten Wechselwirkungslehre. Das verlangt grundsätzlich eine Abwägung der Meinungsfreiheit mit dem Ehrschutz.
„[15] […]Abweichend davon tritt ausnahmsweise bei herabsetzenden Äußerungen, die die Menschenwürde eines anderen antasten oder sich als Formalbeleidigung oder Schmähung darstellen, die Meinungsfreiheit hinter den Ehrenschutz zurück, ohne dass es einer Einzelfallabwägung bedarf.“
[Abwägung ausnahmsweise nicht erforderlich bei:
- Schmähkritik
- Formalbeleidigungen
- Äußerungen, die die Menschenwürde antasten]
Somit ist zunächst der Frage nachzugehen, ob einer dieser Ausnahmetatbestände vorliegt, bevor in die Abwägung eingetreten wird.
aa) Ausnahmen von der Abwägung
„[18] Der Charakter einer Äußerung als Schmähung oder Schmähkritik folgt nicht schon aus einem besonderen Gewicht der Ehrbeeinträchtigung als solcher […]. Eine Äußerung nimmt den Charakter als Schmähung vielmehr erst dann an, wenn nicht mehr die Auseinandersetzung in der Sache, sondern die Diffamierung der Person im Vordergrund steht. […] Die Qualifikation einer ehrenrührigen Aussage als Schmähkritik und der damit begründete Verzicht auf eine Abwägung […] erfordern regelmäßig die Berücksichtigung von Anlass und Kontext der Äußerung. Eine isolierte Betrachtung eines einzelnen Begriffs kann allenfalls unter dem eigenen Gesichtspunkt der Formalbeleidigung eine Abwägung entbehrlich machen.
[Schmähkritik]
[Entscheidend: Keinerlei Sachbezug, sondern nur persönliche Diffamierung]
[19] Die Antwort auf die Frage, wann es sich um Schmähkritik in diesem Sinne handelt, ergibt sich danach nicht aus einer Abwägung im Vorgriff auf die nach den allgemeinen Regeln erforderliche Abwägungsentscheidung, resultiert also nicht aus einer Abwägung vor der Abwägung. Sie folgt vielmehr einem eigenen, sachlich zu bestimmenden Gesichtspunkt: Schmähung im verfassungsrechtlichen Sinn ist gegeben, wenn eine Äußerung keinen irgendwie nachvollziehbaren Bezug mehr zu einer sachlichen Auseinandersetzung hat und es bei ihr im Grunde nur um das grundlose Verächtlichmachen der betroffenen Person als solcher geht. Es sind dies Fälle, in denen eine vorherige Auseinandersetzung erkennbar nur äußerlich zum Anlass genommen wird, um über andere Personen herzuziehen oder sie niederzumachen, etwa in Fällen der Privatfehde. Erfolgen solche allein auf die persönliche Kränkung zielenden Äußerungen unter den Kommunikationsbedingungen des Internets, sind sie aber nicht selten auch von Privatfehden losgelöst. Sie können persönlich nicht bekannte Personen, auch des öffentlichen Lebens, betreffen, die im Schutz der Anonymität des Internets ohne jeden nachvollziehbaren Bezug zu einer Sachkritik grundlos aus verwerflichen Motiven wie Hass- oder Wutgefühlen heraus verunglimpft und verächtlich gemacht werden.
[Konkretisierung der Schmähkritik:
- Privatfehde
- Verunglimpfung und Verächtlichmachung im Internet]
[21] Ähnlich verhält es sich in den ebenfalls an strenge Maßstäbe geknüpften Fällen der Formalbeleidigung im verfassungsrechtlichen Sinn, die deshalb von der Rechtsprechung mit der Schmähung stets in unmittelbarem Zusammenhang behandelt und zum Teil auch als deren Unterfall behandelt worden sind. Um solche Fälle kann es sich etwa bei mit Vorbedacht und nicht nur in der Hitze einer Auseinandersetzung verwendeten, nach allgemeiner Auffassung besonders krassen, aus sich heraus herabwürdigenden Schimpfwörtern – etwa aus der Fäkalsprache – handeln. […] In Fällen der Formalbeleidigung ist das Kriterium der Strafbarkeit nicht der fehlende Sachbezug einer Herabsetzung, sondern die kontextunabhängig gesellschaftlich absolut missbilligte und tabuisierte Begrifflichkeit und damit die spezifisch Form dieser Äußerung. Dem liegt zugrunde, dass die Bezeichnung anderer Personen mit solchen Begriffen sich gerade ihrer allein auf die Verächtlichmachung zielenden Funktion bedient, um andere unabhängig von einem etwaigen sachlichen Anliegen herabzusetzen. […]
[Formalbeleidigung
Kann als Unterfall der Schmähkritik angesehen werden]
[Entscheidend: Gesellschaftlich absolut missbilligte Begrifflichkeit]
[22] Da die Menschenwürde als Wurzel aller Grundrechte mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig ist, muss die Meinungsfreiheit stets zurücktreten, wenn eine Äußerung die Menschenwürde eines anderen verletzt. […] Eine Menschenwürdeverletzung kommt nur in Betracht, wenn sich eine Äußerung nicht lediglich gegen einzelne Persönlichkeitsrechte richtet, sondern einer konkreten Person den ihre menschliche Würde ausmachenden Kern der Persönlichkeit abspricht.“
[Verletzung der Menschenwürde
Entscheidend: Äußerung richtet sich gegen Kern der Persönlichkeit, d.h. der Betroffene wird nicht als gleich- wertige Persönlichkeit, sondern als unterwertiges Wesen behandelt (vgl. BVerfG, Beschluss vom 4.2.2010, 1 BvR 369/04, Rn 31).]
Die Strafgerichte haben zu Recht keine dieser Ausnahmekonstellationen angenommen.
[Subsumtion: Ausnahmekonstellationen (-)]
„[37] Eine Einordnung der Äußerungen als […] Formalbeleidigung scheidet offensichtlich aus, weil es sich bei den vom Beschwerdeführer verwendeten Begrifflichkeiten („Justizverbrecher“, „Rechtsbeuger“) um Begriffe handelt, mit denen in einem anderen Kontext durchaus sachliche Kritik an Personen und deren Verhalten zum Ausdruck gebracht werden könnte.
[Formalbeleidigung (-)]
[38] […] Beide Gerichte sind in verfassungsrechtlich nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass wegen des vorhandenen Sachbezugs noch keine Schmähkritik vorlag […]. […] Sie haben ausdrücklich ausgeführt, dass sie in Auseinandersetzung mit der aktuellen und der vergangenen Entscheidung des Oberlandesgerichts Bamberg erfolgten und dass sie „sich keinesfalls in den Diffamierungen der Amtsträger losgelöst von jedem Tatsachenbezug erschöpfen, sondern die von diesen Organen getroffenen Entscheidungen, die vom Angeklagten als rechtswidrig und falsch angesehen werden, betreffen“ (Urteil des Landgerichts, S. 12 f.). […]“
[Schmähkritik (-)]
bb) Abwägung
Da keine der Ausnahmekonstellationen einschlägig ist, hat eine Abwägung zwischen der Meinungsfreiheit und dem Ehrschutz zu erfolgen.
„[16] Aus dem Nichtvorliegen einer solchen […] Antastung der Menschenwürde, Schmähung oder Formalbeleidigung folgt noch keine Vorfestlegung dahingehend, dass das allgemeine Persönlichkeitsrecht bei der dann gebotenen Abwägungsentscheidung zurückzutreten habe. Eine solche Vorfestlegung ergibt sich auch nicht aus der Vermutung zugunsten der freien Rede. Diese Vermutung zielt insbesondere darauf, der Meinungsfreiheit dann zur Durchsetzung zu verhelfen, wenn es sich bei einer Äußerung um einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung in einer die Öffentlichkeit wesentlich berührenden Frage handelt. […] Als solche begründet die Vermutungsregel keinen generellen Vorrang der Meinungsfreiheit gegenüber dem Persönlichkeitsschutz. Aus ihr folgt aber, dass auch dann, wenn Meinungsäußerungen die Ehre anderer beeinträchtigen und damit deren Persönlichkeitsrechte betreffen, diese nur nach Maßgabe einer Abwägung sanktioniert werden können. […]
[Wichtige Klarstellung: Vermutung zugunsten der freien Rede führt nicht automatisch zu einem Vorrang der Meinungsfreiheit.]
[27] […] Zu den hierbei zu berücksichtigenden Umständen können insbesondere Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung sowie Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten gehören.
[Kriterien für die Abwägung]
[28] Mit Blick auf den Inhalt einer Äußerung kann zunächst deren konkreter ehrschmälernder Gehalt einen erheblichen Abwägungsgesichtspunkt bilden. Dieser hängt insbesondere davon ab, ob und inwieweit die Äußerung grundlegende […] Achtungsansprüche betrifft oder ob sie eher das jeweils unterschiedliche soziale Ansehen des Betroffenen schmälert. Ebenfalls kann in Rechnung zu stellen sein, ob eine abschätzige Äußerung die Person als ganze oder nur einzelne ihrer Tätigkeiten und Verhaltensweisen betrifft. […] darf die Handhabung des § 185 StGB zugleich nicht dazu führen, Anstands- und Ehrvorstellungen eines Teils der Gesellschaft allen übrigen Mitgliedern aufzuzwingen; in diesem Sinn kann auch eine gegebenenfalls beschränkte Ausdrucksfähigkeit und sonstige soziale Bedingtheit des jeweiligen Sprechers in Rechnung zu stellen sein.
[Kriterium: Inhalt der Äußerung
- Grundlegender Achtungsanspruch betroffen oder „nur“ soziales Ansehen geschmälert?
- Bezieht sich Äußerung auf Person als Ganzes oder nur auf einzelne Verhaltensweisen?
- Beschränkte Ausdrucksfähigkeit?
- Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung oder Stimmungsmache gegen Personen?]
[29] Das bei der Abwägung anzusetzende Gewicht der Meinungsfreiheit ist umso höher, je mehr die Äußerung darauf zielt, einen Beitrag zur öffentlichen Meinungsbildung zu leisten, und umso geringer, je mehr es hiervon unabhängig lediglich um die emotionalisierende Verbreitung von Stimmungen gegen einzelne Personen geht.
[30] […] In die Abwägung ist […] einzustellen, ob die Privatsphäre des Betroffenen oder sein öffentliches Wirken mit seinen – unter Umständen weitreichenden – gesellschaftlichen Folgen Gegenstand der Äußerung ist und welche Rückwirkungen auf die persönliche Integrität des Betroffenen von einer Äußerung ausgehen können.
[Kriterium: Person des Betroffenen
- Privatsphäre oder öffentliches Wirken betroffen?
- Integritätsverlust des Betroffenen?
- Bundes-, Landes- oder Lokalpolitiker?]
[32] […] Welche Äußerungen sich Personen des öffentlichen Lebens gefallen lassen müssen und welche nicht, liegt dabei nicht nur an Art und Umständen der Äußerung, sondern auch daran, welche Position sie innehaben und welche öffentliche Aufmerksamkeit sie für sich beanspruchen. Einem Bundesminister gegenüber können insoweit härtere Äußerungen zuzumuten sein als etwa einem Lokalpolitiker. […]
[33] Mit Blick auf Form und Begleitumstände einer Äußerung kann nach den Umständen des Falles insbesondere erheblich sein, ob sie ad hoc in einer hitzigen Situation oder im Gegenteil mit längerem Vorbedacht gefallen ist. […] Abwägungsrelevant kann […] auch sein, ob Äußernden aufgrund ihrer beruflichen Stellung, Bildung und Erfahrung zuzumuten ist, auch in besonderen Situationen – beispielsweise gerichtlichen und behördlichen Verfahren – die äußerungsrechtlichen Grenzen zu kennen und zu wahren. In diesem Zusammenhang ist ebenfalls erheblich, ob und inwieweit für die betreffende Äußerung ein konkreter und nachvoll- ziehbarer Anlass bestand oder ob sie aus nichtigen oder vorgeschobenen Gründen getätigt wurde. Hierbei ist auch der Gesichtspunkt des sogenannten „Kampfs um das Recht“ zu berücksichtigen. Danach ist es im Kontext rechtlicher Auseinandersetzungen grundsätzlich erlaubt, auch besonders starke und eindringliche Ausdrücke zu benutzen, um Rechtspositionen und Anliegen zu unterstreichen.
[Kriterium: Form der Äußerung
- Sofortige oder geplante Äußerung?
- Berufliche Stellung, Bildung, Erfahrung des Äußernden
- Nachvollziehbarer Anlass für die Äußerung? „Kampf um das Recht“?]
[34] Ebenfalls bei der Abwägung in Rechnung zu stellen ist die konkrete Verbreitung und Wirkung einer Äußerung. […] Erhält nur ein kleiner Kreis von Personen von einer ehrbeeinträchtigenden Äußerung Kenntnis oder handelt es sich um eine nicht schriftlich oder anderweitig perpetuierte Äußerung, ist die damit verbundene Beeinträchtigung der persönlichen Ehre geringfügiger und flüchtiger als im gegenteiligen Fall. Demgegenüber ist die beeinträchtigende Wirkung einer Äußerung beispielsweise gesteigert, wenn sie in wiederholender und anprangernder Weise, etwa unter Nutzung von Bildnissen der Betroffenen, oder besonders sichtbar in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Medium getätigt wird. […].“
[Kriterium: Verbreitung und Wirkung der Äußerung
- Kleiner oder großer Adressatenkreis?
- Mündliche oder schriftliche Äußerung?
- Wiederholende, anprangernde Äußerung?
- Nutzung von Bildnissen des Betroffenen?
- Verwendung eines öffentlich zugänglichen Mediums?]
Unter Zugrundelegung dieser Kriterien ist zu konstatieren, dass die Strafgerichte in nachvollziehbarer Weise auf die wiederkehrende, besonders hartnäckige und durch die Namensnennung, den anklagenden Duktus und die Untermalung durch Bilder anprangernde Form der Äußerungen abgestellt haben, ferner darauf, dass es sich um Äußerungen handelt, die die berufliche Integrität der betroffenen Richter grundsätzlich infrage stellen und gegenüber einer unbestimmten Vielzahl von Personen in einem der allgemeinen Öffentlichkeit zugänglichen Internetblog verbreitet wurden. Die persönliche Kränkung des B überlagert weitgehend sein sachliches Anliegen, seinen „Kampf um das Recht“. Daher haben die Strafgerichte zu Recht dem Ehrschutz der Betroffenen den Vorrang gegeben, sodass der Eingriff in Art. 5 I 1 1. Hs. GG gerechtfertigt ist. Die strafgerichtliche Verurteilung verletzt demnach nicht die Meinungsfreiheit des B.
[Anwendung der Kriterien im konkreten Fall]
FAZIT
Die Entscheidung spricht ein Problem an, das immer wieder Gegenstand von Examensklausuren ist, die Strafbarkeit von Äußerungen unter Berücksichtigung der Wertungen des Art. 5 I 1 1. Hs. GG. Stets kommt es bei diesen Klausuren darauf an, den Inhalt der Äußerung ganz genau zu ermitteln – was der Beschluss des BVerfG exemplarisch verdeutlicht.
Merken sollte man sich vor allem die Konkretisierung der Begriffe „Schmähkritik, Formalbeleidigung, Verletzung der Menschenwürde“ sowie die zentralen Abwägungskriterien (Inhalt, Form, Anlass und Wirkung der betreffenden Äußerung, Person und Anzahl der Äußernden, der Betroffenen und der Rezipienten).
[Z.B. NRW und Berlin, 1. Examen, Termin April 2018, 2. Klausur]
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