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Fall des Monats Januar 2021: Sittenwidrigkeit der Tat i.S.v. § 228 StGB

By 15. Januar 2021Oktober 10th, 2023No Comments
Fall des Monats

Problem: Sittenwidrigkeit der Tat i.S.v. § 228 StGB

Einordnung: Strafrecht BT III/Körperverletzungsdelikte

BGH, Urteil vom 12.05.2020 1 StR 368/19

EINLEITUNG

Das vorliegende Urteil betrifft die Voraussetzungen der Körperverletzung mit Todesfolge, § 227 I StGB, der Beteiligung an einer Schlägerei, § 231 I StGB, sowie der rechtfertigenden Einwilligung.

SACHVERHALT

Dem 15 Jahre alten Angeklagten R war zugetragen worden, dass sein Klassenkamerad M geäußert haben soll, R könne nicht richtig zuschlagen; seine Schläge seien ‚pussyhaft‘. Auf Betreiben des R vereinbarten sie, sich zu einem Zweikampf zu treffen und dazu jeweils so viele Unterstützer wie möglich mitzubringen. Beide gingen davon aus, dass es zu Faustschlägen in das Gesicht mit entsprechenden Verletzungsfolgen kommen würde, dass aber zur Vermeidung schwerer Verletzungen besonders gefahrträchtige Verhaltensweisen, insbesondere Fußtritte gegen den Kopf unterbleiben sollten.

Am vereinbarten Ort hatten sich mindestens 22 Sympathisanten eingefunden, auf Seiten des R u.a. der 25 Jahre alte äußerst muskuläre Mitangeklagte K und dessen Cousin, der 14 Jahre alte Mitangeklagte U. R eröffnete den Kampf mit einem Schlag mit der flachen Hand in das Gesicht von M. Dann schubsten und schlugen sie sich, wobei R seinem Gegner mindestens zwei weitere Faustschläge in das Gesicht versetzte und ihn möglicherweise im Bereich der Nase traf.

U befürchtete, M werde die Auseinandersetzung als Sieger beenden. Deshalb versetzte U dem M einen Faustschlag in das Gesicht. M stieß U weg und wehrte ihn so erfolgreich ab.
Aus Wut und Empörung darüber versetzte K dem M mit der rechten Faust einen wuchtigen Schlag gegen die linke Schläfe und mit der linken Faust einen wuchtigen Schlag in den rechten Oberbauch. Dies führte zu einer Bewusstseinstrübung, die die Fähigkeit des M, sich gegen weitere Angriffe zu wehren, erheblich beeinträchtigte.

R trat, nachdem sich K aus dem Kampfgeschehen zurückgezogen hatte, an den deutlich gezeichneten M heran, der sich nicht mehr wehren konnte und lediglich schützend seine Fäuste vor seine Schläfen hielt. Er versetzte ihm in dem Bewusstsein, dass M wegen der bereits erlittenen Verletzungen und seiner dadurch bewirkten Schwächung nicht mit einer Fortsetzung des Zweikampfes einverstanden war, drei wuchtige Faustschläge gegen den Kopf.

M brach bewusstlos zusammen. Er hatte eine Bewusstseinsstörung und eine stark und ausschließlich nach innen blutende Nasenbeinfraktur. Er erstickte an eingeatmetem Blut, weil die Bewusstseinsstörung seinen Schluck- und Hustenreflex ausgeschaltet hatte.

Welcher Schlag in das Gesicht die Nasenbeinfraktur verursacht hatte, konnte nicht festgestellt werden. Durch den wuchtigen Schlag des Angeklagten K gegen die Schläfe wurde sie nicht verursacht.

Wie haben K und R sich strafbar gemacht?

LEITSÄTZE DER REDAKTION

  1. Die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den „guten Sitten“ i.S.v. § 228 StGB trotz der Einwilligung des betroffenen Rechtsgutsinhabers hängt von der ex-ante zu bestimmenden Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des eingetretenen Körperverletzungserfolgs sowie des damit einhergehenden Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers ab; die Körperverletzung ist jedenfalls dann als sittenwidrig zu bewerten, wenn die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird.
  2. Die für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Schlägerei i.S.d. § 231 I StGB erforderlichen wechselseitigen Tätlichkeiten zwischen mehr als zwei Personen müssen nicht gleichzeitig begangen werden; eine Schlägerei kann vielmehr auch anzunehmen sein, wenn nacheinander jeweils nur zwei Personen gleichzeitig wechselseitige Tätlichkeiten verüben, aber insgesamt mehr als zwei Personen beteiligt sind, und zwischen diesen Vorgängen ein so enger innerer Zusammenhang besteht, dass eine Aufspaltung in einzelne „Zweikämpfe“ nicht in Betracht kommt und die Annahme eines einheitlichen Gesamtgeschehens mit mehr als zwei aktiv Beteiligten gerechtfertigt ist.
  3. Aus Sinn und Zweck des § 227 Abs. 1 StGB folgt, dass eine engere Beziehung zwischen der Körperverletzung und dem tödlichen Erfolg als bloße Kausalität zu verlangen ist; die Vorschrift gilt deshalb nur für solche Körperverletzungshandlungen, denen das spezifische Risiko anhaftet, zum Tod des Opfers zu führen; gerade diese Gefahr muss sich im tödlichen Ausgang niedergeschlagen haben; nach diesen Grundsätzen unterbricht das vorsätzliche Handeln eines Dritten regelmäßig den Zurechnungszusammenhang.

[Anm.: §§ 26, 27, 222, 224 StGB sind nicht zu prüfen. Ggf. erforderliche Strafanträge sind gestellt.]

PRÜFUNGSSCHEMA: BETEILIGUNG AN EINER SCHLÄGEREI, § 231 I StGB

A. Tatbestand

I. Vorliegen einer Schlägerei oder eines von mehreren verübten Angriffs

II. Beteiligung an der Schlägerei oder dem Angriff

III. Vorsatz bzgl. I. und II.
IV. Objektive Bedingung der Strafbarkeit: Verursachung einer schweren
Folge (Tod oder Folge des § 226 I StGB) durch die Schlägerei oder den Angriff

B. Rechtswidrigkeit und Schuld

LÖSUNG
1. Teil: Strafbarkeit des R

A. Strafbarkeit gem. § 223 I StGB durch die Schläge vor dem Eingreifen von U und K 

Durch die Schläge in das Gesicht des M zu Beginn des Zweikampfs könnte R sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB zum Nachteil des M strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

Die Schläge stellen eine üble und unangemessene Behandlung dar, die zumindest das körperliche Wohlbefinden des M erheblich beeinträchtigt und sind somit eine körperliche Misshandlung. Eine Gesundheitsschädigung durch diese Schläge lässt sich dem Sachverhalt nicht entnehmen. R hat die körperliche Misshandlung dem M vorsätzlich zugefügt und so den Tatbestand des § 223 I StGB erfüllt.

Gesundheitsschädigung ist das Hervorrufen oder Steigern eines pathologischen Zustandes.

II. Rechtswidrigkeit
R könnte durch eine Einwilligung des M gerechtfertigt sein.

1. Disponibles Rechtsgut
Bei der körperlichen Unversehrtheit handelt es sich um ein disponibles Rechtsgut (vgl. § 228 StGB).

2. Dispositionsbefugnis und Einwilligungsfähigkeit des M
Als Inhaber des verletzten Rechtsgutes war M dispositionsbefugt. Er müsste auch einwilligungsfähig gewesen sein.

„[46] […] Nach Rechtsprechung und herrschender Lehre ist einwilligungsfähig, wer nach seiner geistigen und sittlichen Reife imstande ist, Bedeutung und Tragweite des konsentierten Rechtsgutsangriffs zu erkennen und sachgerecht zu beurteilen, wobei umso strengere Anforderungen zu stellen sind, je gewichtiger der Angriff ist und je schwerer seine Folgen abzusehen sind. Nach diesem (relativen) Maßstab belegen die Feststellungen des Landgerichts die Einwilligungsfähigkeit des altersgerecht entwickelten Geschädigten.

BGH, Beschluss vom 09.01.2018, 5 StR 541/17, NStZ 2018, 537

[47] Er vermochte […] die Bedeutung und mögliche Folgen der verabredeten Schläge durch den gleichaltrigen, ihm körperlich nicht überlegenen Kontrahenten abzuschätzen.“

3. Einwilligung vor der Tat erklärt und nicht widerrufen
M hat dadurch, dass er zu dem Zweikampf angetreten ist, seine Einwilligung konkludent erklärt und diese auch nicht widerrufen.

4. Keine Willensmängel
Willensmängel
des M sind in Bezug auf die Einwilligungserklärung nicht gegeben.

5. Keine Sittenwidrigkeit der Tat, § 228 StGB
Gem. § 228 StGB wäre jedoch eine Einwilligung ausgeschlossen, wenn die Tat gegen die guten Sitten verstoßen würde.

„[42] Die Tat in Gestalt der Faustschläge des Angeklagten R. gegen Gesicht und Kopf seines Kontrahenten verstieß nicht gegen die guten Sitten. Die Unvereinbarkeit einer Körperverletzung mit den ‚guten Sitten‘ im Sinne von § 228 StGB trotz der Einwilligung des betroffenen Rechtsgutsinhabers hängt von der ex-ante zu bestimmenden Art und Schwere des Rechtsgutsangriffs unter Berücksichtigung von Art und Gewicht des eingetretenen Körperverletzungserfolgs sowie des damit einhergehenden Gefahrengrads für Leib und Leben des Opfers ab.

BGH, Urteil vom 22.01.2015, 3 StR 233/14,NJW 2015, 1540

Vgl. zu § 228 StGB auch Schweinberger, JURA INTENSIV, Strafrecht AT I, Rn 327 ff.

[43] a) Nach diesem Maßstab ist die Körperverletzung jedenfalls dann als sittenwidrig zu bewerten, wenn bei objektiver Betrachtung unter Einbeziehung aller maßgeblichen Umstände die einwilligende Person durch die Körperverletzungshandlung in konkrete Todesgefahr gebracht wird. Findet indes die Tat unter Bedingungen statt, die den Grad der aus ihr hervorgehenden Gefährlichkeit für die körperliche Unversehrtheit oder das Leben des Verletzten begrenzen, ist die Körperverletzung durch die erklärte Einwilligung gerechtfertigt, wenn das Vereinbarte in ausreichend sicherer Weise für die Verhütung gravierender, sogar mit der Gefahr des Todes einhergehender Körperverletzungen Sorge tragen kann; insoweit ist auch die Eskalationsgefahr zu berücksichtigen, die sich aus der Unkontrollierbarkeit gruppendynamischer Prozesse ergibt. [44] b) Hieran gemessen war die Tat nicht sittenwidrig. Die Kontrahenten waren gleichalt und etwa gleichgroß. Zwischen ihnen bestand Einvernehmen, dass zur Vermeidung schwerer Verletzungen insbesondere Fußtritte gegen den Kopf unterbleiben sollten. Bei der rechtlich gebotenen Betrachtung zu Beginn der Körperverletzungshandlungen, die auf diese Weise zwischen abwehrfähigen und -bereiten, nicht vorgeschädigten 15- Jährigen stattfinden sollten, standen keine schweren Gesundheitsschäden im Raum und war keine konkrete Todesgefahr zu erwarten. […]

BGH, Beschluss vom 20.02.2013, 1 StR 585/12, NStZ 2013, 342; Urteil vom 20.11.2008, 4 StR 328/08, NStZ 2009, 148

[45] Die Hinzuziehung von Unterstützern führt hier nicht zu einem anderen Ergebnis; denn deren Eingreifen war nicht verabredet. Ein solches war bei einem aus ihrer Sicht ungünstigen Kampfverlauf zwar ein mögliches deliktstypisches Gruppenverhalten (Eskalationsgefahr). Dieser Aspekt darf jedoch nicht isoliert betrachtet werden; denn die Anwesenheit von Unterstützern birgt die Möglichkeit eines deeskalierenden Eingreifens. Ihre Mobilisierung ist doppelrelevant, was – anders als bei verabredeten tätlichen Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Gruppen – zur Begründung der Sittenwidrigkeit im Sinne von § 228 StGB nicht ausreicht. Zwar kann die Gefahr bestehen, dass sich Anhänger im Rahmen eines gruppendynamischen Prozesses zu einem Eingreifen veranlasst sehen; die mit dem Zweikampf verbundene Gefahr kann aber auch gemindert werden, weil die Unterstützer die Kämpfer überwachen, das Einhalten der Kampfesregeln sicherstellen und andere zurückhalten könnten.“

Die Tat war somit nicht sittenwidrig.

6. Subjektives Rechtfertigungselement
R handelte in Kenntnis und aufgrund der Einwilligung, sodass auch das subjektive Rechtfertigungselement gegeben ist.

R ist somit durch eine Einwilligung des M gerechtfertigt.

III. Ergebnis

R hat sich durch die Schläge vor dem Eingreifen von U und K nicht gem. § 223 I StGB strafbar gemacht.

B. Strafbarkeit gem. § 227 I StGB durch die Schläge vor dem Eingreifen von U und K

„[48] Der Angeklagte R kann sich demnach, anknüpfend an die Erfüllung des Tatbestands der Körperverletzung in dieser ersten Phase des Geschehens, von vornherein nicht wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) schuldig gemacht haben, weil das Grunddelikt gerechtfertigt war.“

C. Strafbarkeit gem. §§ 223 I, 25 II StGB durch die Schläge

Durch die Schläge könnte R sich wegen mittäterschaftlicher Körperverletzung gem. §§ 223 I, 25 II StGB zum Nachteil des M strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand
Die körperlichen Misshandlungen und Gesundheitsschädigungen, die M durch die Schläge von U und K erlitten hat, hat R zwar nicht selbst zugefügt. Die Handlungen von U und/oder K wären R jedoch gem. § 25 II StGB zuzurechnen, wenn R deren Mittäter wäre.

„[50] Ein solches mittäterschaftliches Zusammenwirken scheidet nach den Feststellungen aus. Sukzessive Mittäterschaft ist keine eigene Form der Täterschaft, sondern setzt die Erfüllung aller Kriterien der Mittäterschaft voraus, insbesondere erfordert sie einen gemeinsamen, aber erst während der Tatausführung – also sukzessive – gefassten Tatplan. Nach den Feststellungen aber handelten die Angeklagten […] U und […] K entgegen der vom Angeklagten R mit M getroffenen Absprache eines Zweikampfs. Der Angeklagte K agierte darüber hinaus aufgrund eines spontan gefassten Tatentschlusses und aus Wut und Empörung bewusst schnell, zog sich dann aber sogleich zurück.“

Zur sukzessiven Mittäterschaft s. auch Schweinberger, JURA INTENSIV, Strafrecht AT II, Rn 69 ff.

R ist also nicht Mittäter von U und/oder K, sodass ihm deren Handlungen nicht zugerechnet werden können.

II. Ergebnis

R ist nicht strafbar gem. §§ 223 I, 25 II StGB.

D. Strafbarkeit gem. § 223 I StGB durch die Schläge nach dem Eingreifen von U und K

Durch die Schläge, die R dem M nach dem Eingreifen von U und K versetzte, könnte R sich wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB zum Nachteil des M strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

R hat M durch die Schläge vorsätzlich körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt.

II. Rechtswidrigkeit

M war, nachdem er durch das „regelwidrige“ Eingreifen von U und K geschwächt worden war, mit einer Fortsetzung des Kampfes nicht einverstanden, was R auch erkannt hatte. Eine Rechtfertigung der späteren Schläge durch eine Einwilligung des M scheidet somit aus. R handelte rechtswidrig.

III. Schuld
R handelte auch schuldhaft.

IV. Antrag, § 230 StGB

Der gem. § 230 StGB erforderliche Strafantrag ist gestellt.

V. Ergebnis

R ist strafbar gem. § 223 I StGB.

E. Strafbarkeit gem. § 227 I StGB durch die Schläge nach dem Eingreifen von U und K

Durch die Schläge in der Schlussphase könnte R sich auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 I StGB zum Nachteil des M strafbar gemacht haben.

Den Tatbestand des Grunddelikts, § 223 I StGB, hat R verwirklicht (s.o.).

„[52] [Eine] Verurteilung des Angeklagten R wegen Körperverletzung mit Todesfolge (§ 227 StGB) würde [auch] voraussetzen, dass zwischen dessen Körperverletzungshandlung und dem Todeserfolg ein ursächlicher Zusammenhang besteht.

[53] a) Daran fehlt es hier, weil zugunsten des Angeklagten R in dubio pro reo davon auszugehen ist, dass allein die Verletzungshandlungen des Mitangeklagten K die tödliche Folge vor Rs Faustschlägen in der Schlussphase verursacht haben.

BGH, Beschluss vom 11.02.2020, 4 StR 583/19

[54] b) Auch eine Zurechnung der tödlichen Folge über (sukzessive) Mittäterschaft ist nicht möglich. Allein der Umstand, dass sich der Angeklagte R den vom Angeklagten K erzielten Verletzungserfolg zunutze machte, lässt keinen rechtlich tragfähigen Rückschluss auf einen konkludent und sukzessiv gefassten gemeinsamen Tatplan dieser beiden Angeklagten zu. Der Angeklagte R handelte nach den Feststellungen des Landgerichts vielmehr auf Grund eines gegenüber dem Angeklagten K, der von weiteren Körperverletzungshandlungen Abstand genommen hatte, selbständigen Tatentschlusses und damit – wie schon der Angeklagte K zuvor – als Alleintäter.“

R ist also nicht strafbar gem. § 227 I StGB.

F. Strafbarkeit gem. § 231 I StGB durch die Schläge

Durch die Schläge könnte R sich auch wegen Beteiligung an einer Schlägerei gem. § 231 I StGB strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

1. Vorliegen einer Schlägerei oder eines von mehreren verübten Angriffs

Das Geschehen könnte eine Schlägerei darstellen.
„[34] Eine Schlägerei im Sinne des § 231 Abs. 1, 1. Alternative StGB ist eine mit gegenseitigen Tätlichkeiten verbundene Auseinandersetzung, an der mehr als zwei Personen aktiv mitwirken. Mit dem Angriff [des] Angeklagten U […] auf M war eine Schlägerei entstanden, die über das Eingreifen des Angeklagten K bis zu den letzten von dem Angeklagten R gesetzten Schlägen andauerte.

BGH, Urteil vom 19.12.2013, 4 StR 347/13, NStZ 2014, 147

[35] Die für die Erfüllung des Tatbestandsmerkmals der Schlägerei erforderlichen wechselseitigen Tätlichkeiten zwischen mehr als zwei Personen müssen nicht gleichzeitig begangen werden. Eine Schlägerei im Sinne des § 231 Abs. 1, 1. Alternative StGB kann vielmehr auch anzunehmen sein, wenn nacheinander jeweils nur zwei Personen gleichzeitig wechselseitige Tätlichkeiten verüben, aber insgesamt mehr als zwei Personen beteiligt sind, und zwischen diesen Vorgängen ein so enger innerer Zusammenhang besteht, dass eine Aufspaltung in einzelne ‚Zweikämpfe‘ nicht in Betracht kommt und die Annahme eines einheitlichen Gesamtgeschehens mit mehr als zwei aktiv Beteiligten gerechtfertigt ist. Eine tätliche Auseinandersetzung zwischen mehr als zwei Personen verliert erst dann den Charakter einer Schlägerei, wenn sich so viele Beteiligte entfernen, dass nur noch zwei Personen verbleiben, die aufeinander einschlagen oder in anderer Weise gegeneinander tätlich sind.

[36] Nach den Feststellungen lag ein einheitliches Gesamtgeschehen bis zum Abschluss der letzten Gewalthandlungen durch den Angeklagten R vor. […].“

Eine Schlägerei liegt somit vor.

2. Beteiligung an der Schlägerei

R hat im Rahmen der Schlägerei selbst Verletzungshandlungen vorgenommen und sich so an der Schlägerei beteiligt.

3. Vorsatz bzgl. 1. und 2.

Zumindest bei seinen Schlägen nach dem Eingreifen von U und K wusste R vom Vorliegen einer Schlägerei und hat sich mit Vorsatz an der Schlägerei beteiligt.

4. Objektive Bedingung der Strafbarkeit

„[37] Der Tod des M als objektive Bedingung der Strafbarkeit ist eingetreten. Es genügt, dass dessen Tod in einem ursächlichen Zusammenhang mit dem Gesamtvorgang der Schlägerei steht. Der ursächliche Zusammenhang zwischen der Beteiligung des einzelnen an der Schlägerei und deren schwerer Folge ist hingegen als solcher für die Strafbarkeit nach § 231 StGB rechtlich unerheblich.“

BGH, Beschluss vom 27.03.2014, 5 StR 38/14

II. Rechtswidrigkeit

R handelte rechtswidrig. Eine Rechtfertigung durch eine Einwilligung scheidet aus, da § 231 I StGB insb. auch den Schutz der Allgemeinheit vor der Eskalation von Schlägereien bezweckt und dies kein disponibles Rechtsgut darstellt.

III. Schuld
R handelte schuldhaft.

IV. Ergebnis

R ist strafbar gem. § 231 I StGB.

G. Konkurrenzen und Gesamtergebnis

R ist strafbar gem. §§ 223 I, 231 I, 52 StGB.

2. Teil: Strafbarkeit des K

A. Strafbarkeit gem. § 223 I StGB

K hat den M durch die Schläge vorsätzlich körperlich misshandelt und an der Gesundheit geschädigt und so den Tatbestand des § 223 I StGB verwirklicht. M hatte nur in Verletzungshandlungen des R eingewilligt, nicht jedoch in solche des K, sodass K auch rechtswidrig gehandelt hat.
K handelte auch schuldhaft. Der gem. § 230 I StGB erforderliche Strafantrag ist gestellt, sodass K wegen Körperverletzung gem. § 223 I StGB zum Nachteil des M strafbar ist.

B. Strafbarkeit gem. § 227 I StGB

Durch die Schläge könnte K sich auch wegen Körperverletzung mit Todesfolge gem. § 227 I StGB zum Nachteil des M strafbar gemacht haben.

I. Tatbestand

1. Grunddelikt: § 223 I StGB

Den Tatbestand des Grunddelikts, § 223 I StGB, hat K verwirklicht (s.o.).

2. Qualifikation: § 227 I StGB
K müsste auch den Tatbestand der Qualifikation, § 227 I StGB, verwirklicht haben. Mit dem Tod des M ist die schwere Folge des § 227 I StGB eingetreten. Auch war das Grunddelikt kausal für diese schwere Folge.

„[59] 1. Aus Sinn und Zweck des § 227 Abs. 1 StGB folgt, dass eine engere Beziehung zwischen der Körperverletzung und dem tödlichen Erfolg als bloße Kausalität zu verlangen ist. Die Vorschrift […] gilt deshalb nur für solche Körperverletzungshandlungen, denen das spezifische Risiko anhaftet, zum Tod des Opfers zu führen. Gerade diese Gefahr muss sich im tödlichen Ausgang niedergeschlagen haben. […]

Zum spezifischen Gefahrzusammenhang bei Erfolgsqualifikationen s. Schweinberger, JURA INTENSIV, Strafrecht AT II, Rn 541 ff.  BGH, Urteil vom 16.03.2006, 4 StR 536/05, NJW 2006, 1822

[60] Nach diesen Grundsätzen unterbricht das vorsätzliche – anders als leicht fahrlässiges – Handeln eines Dritten regelmäßig den Zurechnungszusammenhang.
[61] 2. Letzteres ist hier der Fall. Davon, dass gerade die Schläge des Angeklagten K die (mit-)entscheidende Todesursache der Bewusstseinsstörung bei dem Geschädigten herbeiführten, hat sich das Landgericht […] nicht zu überzeugen vermocht. Es musste vielmehr insoweit zugunsten des

BGH, Urteil vom 29.06.1983, 2 StR 150/83, NJW 1984, 621

Angeklagten K. davon ausgehen, dass diese Todesursache erst durch den vorsätzlich handelnden Mitangeklagten R gesetzt wurde. Dessen abschließende Körperverletzungshandlungen sind dem Angeklagten K […] nicht zuzurechnen.

[62] a) Zwar macht sich auch derjenige nach § 227 StGB strafbar, der die Verletzung nicht mit eigener Hand zugefügt, jedoch aufgrund eines gemeinsamen Tatplans mit dem Willen zur Tatherrschaft zum Verletzungserfolg beigetragen hat; Voraussetzung ist allerdings, dass die Handlung des anderen Täters grundsätzlich im Rahmen des gegenseitigen ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnisses lag und dem Täter hinsichtlich des Erfolges Fahrlässigkeit zur Last fällt. [63] Ein solches mittäterschaftliches Zusammenwirken konnte das Landgericht aber nicht feststellen. Vielmehr besteht in diesem Fall die Besonderheit, dass die Angeklagten K und R keinen gemeinsamen Taplan – auch nicht sukzessive während der Tatausführung – schlossen, der eine erweiterte Zurechnung in Abweichung von dem Grundsatz, dass ein vorsätzliches Dazwischentreten eines Dritten den spezifischen Zusammenhang unterbricht, rechtfertigen würde. Die bloße innere Zustimmung zu den Schlägen des jeweils anderen genügt nicht; vielmehr bedarf es einer zumindest stillschweigenden Übereinkunft über ein arbeitsteiliges Vorgehen. Wie bereits ausgeführt lag eine solche jedoch nicht vor […]; vielmehr handelten die Angeklagten K und R jeweils als Alleintäter.“

BGH, Beschluss vom 21.08.2019, 1 StR 191/19, NStZ-RR 2019, 378; Beschluss vom 05.09.2012, 2 StR 242/12

Der für § 227 I StGB erforderliche spezifische Gefahrzusammenhang ist somit nicht gegeben.

II. Ergebnis

K ist nicht strafbar gem. § 227 I StGB.

C. Strafbarkeit gem. § 231 I StGB

Allerdings hat sich K – ebenso wie R – durch die Schläge wegen Beteiligung an einer Schlägerei gem. § 231 I StGB strafbar gemacht.

D. Konkurrenzen und Gesamtergebnis

K ist strafbar gem. §§ 223 I, 231 I, 52.

FAZIT

Eine Haftung des K für den Tod des M wäre allerdings – anders als bei R – über § 222 StGB gegeben, der hier aber nicht zu prüfen war.
Dieser Sachverhalt ist eine ideale Vorlage für eine Examensklausur, da hier sehr viele Probleme des Strafrecht AT zusammenkommen: Neben der Prüfung einer rechtfertigenden Einwilligung mit der Problematik der möglichen Sittenwidrigkeit der Tat (§ 228 StGB) geht es auch um die Anforderungen an die Tatbestände des § 231 I StGB (Voraussetzungen für eine Schlägerei) und des § 227 StGB (spezifischer Gefahrzusammenhang). Außerdem wird die Abgrenzung von Mit- und Nebentäterschaft relevant und der Prüfling muss mit den Unklarheiten im Sachverhalt (bzgl. der Todesursache) umgehen können. Schließlich ist auch die Strukturierung des Gutachtens aufgrund der Zahl der beteiligten Personen und des eskalierenden Geschehens knifflig.

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